Beruft sich der Gegner eines Anspruchs aus § 45 Abs. 1 LuftVG auf das Eingreifen der Haftungsbeschränkung aus § 45 Abs. 2 LuftVG, kann ihm nicht verwehrt werden, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Punkte zu verlangen, über die er kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann. Der Anspruchsgegner ist deshalb grundsätzlich nicht gehindert, den von ihm nur vermuteten technischen Defekt zu behaupten und unter Sachverständigenbeweis zu stellen. Darin liegt weder eine Verletzung der prozessualen Wahrheitspflicht noch ein unzulässiger Ausforschungsbeweis.
In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall begehrte eine bei einem Flugzeugabsturz schwer verletzte Flugpassagierin von dem Sohn und Alleinerben des bei dem Absturz tödlich verunglückten Piloten (im Folgenden: Pilot) den Ersatz des erlittenen materiellen und immateriellen Schadens.
Der Vater der Flugpassagierin vereinbarte im August 2013 mit dem Piloten, dass dieser die Familie der Flugpassagierin von einem Urlaubsaufenthalt auf der Insel Langeoog zurück auf das Festland nach A. fliegen sollte. Als Gegenleistung war die Zahlung von 600 EUR bei minutengenauer Abrechnung vereinbart. Am 27.08.2013 flog der Pilot nach Langeoog, nahm dort die damals ein Jahr und vier Monate alte Flugpassagierin sowie sechs weitere Mitglieder ihrer Familie an Bord und flog zurück. Kurz vor A. stürzte das Flugzeug aus streitiger Ursache ab. Bei dem Absturz verstarben neben dem Piloten die Mutter, die Großmutter, ein Bruder und ein Vetter der Flugpassagierin; die Flugpassagierin und zwei weitere Kinder überlebten. Die Flugpassagierin erlitt schwere Verletzungen. Sie musste in der Folgezeit wiederholt stationär behandelt werden; die Spätfolgen sind noch nicht vollständig absehbar.
Das erstinstanzlich hiermit befasste Landgericht Arnsberg hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, der Flugpassagierin ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000 EUR zugesprochen und die Einstandspflicht des Pilotenerben für zukünftige immaterielle und materielle Schäden aus dem Unfall festgestellt[1]. Auf die Berufung des Pilotenerben hat das Oberlandesgericht Hamm unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung das Urteil insoweit abgeändert, als es dem Pilotenerben die Beschränkung der Haftung auf den Nachlass des Erblassers vorbehalten hat[2]. Hiergegen wendet sich der Pilotenerbe mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde, die gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an das OLG Hamm führte:
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm haftet der Sohn des Piloten als Erbe seines Vaters (§§ 1922, 1967 BGB) unbegrenzt aus § 45 Abs. 1 LuftVG. Der Pilot habe nicht allein aus Gefälligkeit gehandelt, sondern als Luftfrachtführer eine rechtsgeschäftliche Beförderung im Sinne dieser Vorschrift vorgenommen. Zugunsten der Flugpassagierin gälten die Grundsätze über den Vertrag zugunsten Dritter. Die erforderliche verkehrstypische Gefahr habe sich unstreitig verwirklicht. Der Pilotenerbe habe den möglichen Entlastungsbeweis nach § 45 Abs. 2 LuftVG (Haftungsbeschränkung auf 113.100 Rechnungseinheiten pro Fluggast, soweit der Schaden nicht durch rechtswidriges und schuldhaftes Handeln oder Unterlassen des Luftfrachtführers oder seiner Leute verursacht wurde) nicht geführt. Eine Beweisaufnahme hierzu sei nicht veranlasst. Für die vom Pilotenerben begehrte Einholung eines Sachverständigengutachtens fehle es an hinreichenden Anknüpfungstatsachen. Dies gelte auch für die Behauptung, es habe ein Defekt der MainFuelPumpe oder des Triebwerks vorgelegen. Da der Pilotenerbe diese Behauptung „ins Blaue hinein“ aufgestellt habe, komme es auch nicht darauf an, ob es sich bei dem nach Angaben des Pilotenerben überraschend aufgefundenen Motor um den Motor der verunglückten Maschine handele.
Mit diesen Ausführungen hat das OLG Hamm den Pilotenerben in entscheidungserheblicher Weise in seinem aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Das OLG Hamm hat die an eine hinreichende Substantiierung des dem Pilotenerben obliegenden Entlastungsbeweises nach § 45 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 LuftVG zu stellenden Anforderungen überspannt und den vom Pilotenerben angebotenen Sachverständigenbeweis zu Unrecht nicht erhoben.
Nach den Feststellungen des Landgerichts war die Unfallursache unklar und konnte in Folge der Entsorgung des Flugzeugwracks nicht mehr aufgeklärt werden. Der Pilotenerbe zeigt mit der Beschwerdebegründung Berufungsvortrag auf, wonach er erst während des Berufungsverfahrens aus der Einstellungsnachricht der Staatsanwaltschaft vom 04.11.2018 erfahren habe, dass der Flugzeugmotor nicht entsorgt worden sei, sondern sich bei einem Abschleppunternehmen befände. Zugleich hatte er vorgetragen, allein ein technischer Defekt am Motor und/oder an der Benzinzufuhr habe den Absturz verursacht, allein wegen eines technischen Mangels habe der Motor ausgesetzt, in der unmittelbaren Folge habe der Pilot keine Chance zur Vermeidung des Absturzes mehr gehabt. Zum Beweis dieser Behauptung hatte der Pilotenerbe die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt, die wegen des Auffindens des Motors jetzt möglich sei.
Gemäß § 403 ZPO hat die Partei, die die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragen will, die zu begutachtenden Punkte zu bezeichnen. Dagegen verlangt das Gesetz nicht, dass der Beweisführer sich auch darüber äußert, welche Anhaltspunkte er für die Richtigkeit der in die Sachkenntnis des Sachverständigen gestellten Behauptung habe. Wie weit eine Partei ihren Sachvortrag substantiieren muss, hängt von ihrem Kenntnisstand ab[3]. Zur Ermittlung von Umständen, die ihr nicht bekannt sind, ist eine Partei im Zivilprozess grundsätzlich nicht verpflichtet[4]. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügt eine Partei vielmehr grundsätzlich ihrer Darlegungslast, wenn sie Tatsachen anführt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen[5]. Darin kann weder eine Verletzung der prozessualen Wahrheitspflicht noch ein unzulässiger Ausforschungsbeweis gesehen werden[6]. Unzulässig wird ein solches prozessuales Vorgehen erst dort, wo die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt. Anerkanntermaßen ist jedoch bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie nur das Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte rechtfertigen können[7].
Das Risiko der Nichterweislichkeit der Entlastungsvoraussetzungen des § 45 Abs. 2 LuftVG verbleibt freilich beim Pilotenerben.
Bei dieser Sachlage durfte dem Pilotenerben nicht verwehrt werden, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Punkte zu verlangen, über die er kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann. Der beklagte Erbe des Piloten war daher nicht gehindert, den von ihm nur vermuteten unverschuldeten Motorschaden zu behaupten und unter Sachverständigenbeweis zu stellen. Von einem Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte für den vom Pilotenerben behaupteten technischen Defekt kann schon nach den im Berufungsurteil referierten Passagen aus dem vom Pilotenerben vorgelegten luftfahrtsachverständigen Privatgutachten nicht ausgegangen werden.
Der Gehörsverstoß ist erheblich. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich das OLG Hamm nach Erhebung des angebotenen Sachverständigenbeweises eine Überzeugung (§ 286 ZPO) davon gebildet hätte, dass der Absturz nicht durch ein rechtswidriges und schuldhaftes Handeln oder Unterlassen des Piloten oder seiner Leute (§ 45 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 LuftVG), sondern allein durch einen technischen Defekt verursacht wurde.
Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm steht dieser Möglichkeit auch nicht entgegen, dass der Ablauf des Fluges sowie die Zeitpunkte und die Umstände des Auftretens von Problemen, des Erkennens derselben durch den Piloten und dessen sich hieran anschließende Maßnahmen und Handlungen nicht bekannt seien. Denn es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die sachverständige Untersuchung des Motors ergibt, dass eine den Absturz vermeidende Handlungsoption für den Piloten nicht mehr bestand, als die technischen Probleme auftraten.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14. Januar 2020 – VI ZR 97/19
- LG Arnsberg, Urteil vom 16.02.2018 I2 O 354/15[↩]
- OLG Hamm, Urteil vom 22.01.2019 I27 U 34/18[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 13.07.1988 IVa ZR 67/87, NJW-RR 1988, 1529 8[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 13.12 2017 – IV ZR 319/16, VersR 2018, 890 Rn. 17 mwN[↩]
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 28.05.2019 – VI ZR 328/18, NJW 2019, 3236 Rn. 10; vom 18.03.2014 – VI ZR 128/13 6[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 15.10.2019 – VI ZR 377/18 9; Urteil vom 10.01.1995 – VI ZR 31/94, NJW 1995, 1160 17; BGH, Urteil vom 13.07.1988 IVa ZR 67/87, NJW-RR 1988, 1529 7; jeweils mwN[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 15.10.2019 – VI ZR 377/18 10; Urteil vom 25.04.1999 – VI ZR 178/94, NJW 1995, 2111 13; BGH, Urteile vom 07.02.2019 – III ZR 498/16, NJW 2019, 1137 Rn. 37; vom 08.05.2012 – XI ZR 262/10, BGHZ 193, 159, 173 Rn. 40; jeweils mwN[↩]